Stell dir vor, du sitzt in einem Meeting und sollst gleich dein Projekt präsentieren. Plötzlich, wie aus heiterem Himmel, packt dich die blanke Panik. Dein Puls rast, deine Hände beginnen zu schwitzen und du glaubst, die Kontrolle zu verlieren. Vielleicht kommt dir diese Situation nur allzu bekannt vor. Oder vielleicht spürst du diese Angst in anderen Momenten deines Berufslebens – bei Konflikten mit Kollegen, vor großen Gruppen oder wenn Deadlines bedrohlich näher rücken.
Unsere Reaktionen auf Stress im Job sind oft Echos aus der Kindheit
Aber woher kommt dieser Stress, diese tief sitzende Unruhe? Oft liegt die Antwort nicht im Hier und Jetzt, sondern in den Rollen, die wir als Kinder in unserer Familie gespielt haben. Ein Blick zurück in die Kindheit zeigt: Stress und Ängste sind keine Zufälle – sie sind Muster, die wir mitbringen. Die Systemtheorie von Murray Bowen hilft uns, diese unsichtbaren Fäden zu entwirren und im modernen Arbeitsleben besser mit ihnen umzugehen.
Stress trifft uns alle – mal als leises Kribbeln, mal als überwältigende Welle. Biologisch gesehen ist er eine Reaktion auf Bedrohung: Der Körper schaltet in den Fight-or-Flight-Modus. Doch warum fühlt sich ein kritischer Blick vom Chef manchmal an wie ein Angriff, während andere gelassen bleiben? Die Antwort liegt oft tiefer, in den Ängsten, die wir mitbringen – und die wiederum entspringen den Rollen, die wir als Kinder in unserer Familie gespielt haben. In den 1960er und 1970er Jahren entwickelte der Psychiater Murray Bowen seine Systemtheorie, die Familien als emotionale Netzwerke betrachtet. Er zeigte: Jedes Kind übernimmt eine Rolle, um das Gleichgewicht im Familiensystem zu halten. Diese Rollen prägen uns – und wir schleppen sie oft ins Erwachsenenleben mit, besonders ins Berufsleben, wo sie unter Stress sichtbar werden. Schauen wir uns die sechs häufigsten Rollen an und wie sie uns heute beeinflussen.
Die sechs Kindheitsrollen nach Bowens Systemtheorie
- Das perfekte Kind (Hero)
- Als Kind: Du warst der Star – derjenige, der gute Noten nach Hause brachte, die Familie stolz machte und oft als Vorbild diente. Du hast Verantwortung übernommen, um Spannungen zu glätten.
- Im Berufsleben: Heute bist du der Überflieger – der Kollege, der Projekte rettet und Überstunden macht. Doch unter der glänzenden Fassade lauert Stress: Die Angst zu versagen treibt dich an. Ein Fehler fühlt sich an wie das Ende der Welt, weil du gelernt hast, dass du perfekt sein musst.
- Der Sündenbock (Scapegoat)
- Als Kind: Du warst das schwarze Schaf, auf das die Familie ihre Probleme projizierte. Streit? Deine Schuld. Du hast rebelliert oder dich zurückgezogen, um die Spannung abzulenken.
- Im Berufsleben: Jetzt gerätst du leicht in Konflikte – mit Vorgesetzten oder Kollegen. Du fühlst dich oft missverstanden und reagierst gereizt, wenn Kritik kommt. Stress entsteht, weil du dich ständig beweisen musst, während die alte Angst vor Ablehnung mitschwingt.
- Das verlorene Kind (Lost Child)
- Als Kind: Du warst unsichtbar – der Leise, der sich zurückzog, um Konflikte zu vermeiden. Du hast gelesen, geträumt oder dich in deine Welt geflüchtet, während die Familie tobte.
- Im Berufsleben: Heute meidest du Rampenlicht und Konfrontation. Du arbeitest solide, aber unauffällig. Stress kommt, wenn du plötzlich sichtbar werden musst – eine Präsentation oder ein Teamkonflikt löst Panik aus, weil du nie gelernt hast, im Mittelpunkt zu stehen.
- Das Maskottchen (Mascot)
- Als Kind: Du warst der Clown – derjenige, der mit Humor oder Albernheit die Stimmung hob. Deine Aufgabe war es, die Familie abzulenken und zu entspannen.
- Im Berufsleben: Im Job bist du der Stimmungsmacher, der Meetings auflockert. Doch unter Stress bröckelt die Fassade: Du fühlst dich überfordert, weil niemand deine Unsicherheit sieht. Die Angst, nicht ernst genommen zu werden, nagt an dir.
- Der Betreuer/Ermöglicher (Caretaker)
- Als Kind: Du hast dich um andere gekümmert – vielleicht um ein Elternteil oder Geschwister. Du hast Verantwortung übernommen, die nicht deine war, um das System stabil zu halten.
- Im Berufsleben: Jetzt bist du der Teamplayer, der immer einspringt – oft auf Kosten deiner eigenen Grenzen. Stress entsteht durch Überlastung, gepaart mit der Angst, andere im Stich zu lassen. „Nein“ zu sagen fühlt sich unmöglich an.
- Das Goldene Kind (Golden Child)
- Als Kind: Ähnlich wie der Held, aber mit einem Twist: Du warst der Liebling, derjenige, der besondere Aufmerksamkeit bekam. Deine Rolle war es, die Erwartungen der Familie zu erfüllen.
- Im Berufsleben: Du strebst nach Anerkennung und Erfolg, aber Stress kommt, wenn du nicht im Mittelpunkt stehst. Die Angst, nicht mehr „golden“ zu sein, treibt dich zu Perfektionismus – und manchmal in die Erschöpfung.
Familiäre Muster, die wir in unserer Kindheit gelernt haben, begleiten uns nicht nur im Privatleben, sondern auch im Berufsalltag. Sie beeinflussen, wie wir mit Konflikten umgehen, wie wir auf Stress reagieren und wie wir unsere Beziehungen zu Kollegen und Vorgesetzten gestalten. Um diese Dynamiken besser zu verstehen, ist es hilfreich, das Konzept der „Differenzierung des Selbst“ von Murray Bowen zu betrachten.

Emotionale Altlasten durch Selbstreflexion entsorgen
Stress ist kein Schicksal – auch wenn er sich manchmal so anfühlt, wenn der Chef die Stirn runzelt oder die Deadline wie ein Gewitter über dir hängt. Die gute Nachricht? Mit Murray Bowens Systemtheorie können wir die alten Muster, die uns sabotieren, nicht nur erkennen, sondern auch durchbrechen. Der Schlüssel heißt Differenzierung: die Fähigkeit, unsere eigenen Gefühle von denen anderer zu trennen – und von den Rollen, die wir als Kinder gespielt haben.
Stressmanagement heißt nicht nur Entspannung – es heißt, die Fäden deiner Kindheit zu durchschneiden.
Ob du der Held warst, der Sündenbock oder das verlorene Kind: Diese Rollen müssen nicht dein Berufsleben diktieren. Aber wie schaffst du den Ausstieg aus dem alten Drehbuch? Hier sind praktische Schritte, um Stress zu meistern und Ängste abzulegen.
- Schritt 1: Identifiziere deine Rolle und ihre Trigger
Nimm dir einen Moment und denk zurück: Welche Rolle hast du in deiner Familie gespielt? Warst du der Betreuer, der immer einsprang, oder das Maskottchen, das alle zum Lachen brachte? Und jetzt beobachte: Wann taucht dieses Kind in deinem Job wieder auf? Vielleicht merkst du, dass du bei Kritik sofort in den Sündenbock-Modus verfällst – kämpferisch oder defensiv. Oder als Held Panik bekommst, wenn ein Projekt wackelt. Erkenne die Verbindung zwischen damals und heute – das ist der erste Schritt, um den Autopiloten auszuschalten. - Schritt 2: Atme und beobachte – ohne zu reagieren
Stress trifft dich? Halte inne. Atme tief durch und frag dich: „Was fühlt sich hier gerade an wie früher?“ Vielleicht ist es die Angst des Goldenen Kindes, nicht mehr zu glänzen, oder die Unsicherheit des verlorenen Kindes, plötzlich gesehen zu werden. Indem du beobachtest, statt sofort in die alte Rolle zu springen, gewinnst du Abstand. Dein Puls mag rasen, aber du musst nicht mehr der Clown sein, der die Spannung auflöst – oder der Held, der alles rettet. - Schritt 3: Setze Grenzen – und schreibe dein Skript um
Der Betreuer in dir sagt „Ja“ zu jeder Aufgabe? Der Held übernimmt, auch wenn er erschöpft ist? Lerne, „Nein“ zu sagen – nicht aus Rebellion, sondern aus Selbstachtung. Grenzen setzen heißt, die alte Rolle abzulegen und bewusst zu entscheiden, wer du heute sein willst. Ein Beispiel: Wenn dein Chef Druck macht, sag ruhig: „Ich kläre das bis morgen“ – statt wie früher alles sofort zu schultern. Du bist kein Kind mehr, das das Familiensystem retten muss.
Das Schöne daran: Differenzierung ist wie ein Muskel – je öfter du ihn trainierst, desto leichter wird’s. Nächstes Mal, wenn dein Kollege motzt, frag dich: „Ist das seine Wut – oder meine alte Angst?“ Stressmanagement heißt nicht nur Entspannungstechniken üben – es heißt, die Fäden deiner Kindheit zu durchschneiden und dich selbst neu zu definieren. Und genau das macht dich im Job stärker.
Gelassenheit als New-Work-Superpower
Unsere Kindheitsrollen – ob Held, Sündenbock oder Maskottchen – sind wie unsichtbare Rucksäcke, die wir ins Berufsleben tragen. Sie prägen, wie wir auf Stress reagieren, wie wir Ängste fühlen und wie wir mit Konflikten umgehen. Doch sie sind kein Urteil. Murray Bowens Systemtheorie zeigt uns: Was wir als Kinder gelernt haben, können wir als Erwachsene umlernen. Die moderne Arbeitswelt – mit ihren flachen Hierarchien, ihrer Forderung nach Eigenverantwortung und emotionaler Intelligenz – ist der perfekte Ort, um diese Reise anzutreten. Gelassenheit wird zur Superpower, wenn wir unsere alten Muster erkennen und loslassen.
„Die Kindheit ist wie ein altes Betriebssystem – es läuft im Hintergrund, bis du es updatest.“
Stell dir vor: Das nächste Meeting kommt, die Deadline rückt näher, und statt in Panik zu verfallen, bleibst du ruhig. Du bist nicht mehr das verlorene Kind, das sich versteckt, oder der Betreuer, der sich aufopfert. Du bist du – bewusst, differenziert, stark. Stress wird nicht verschwinden, aber du kannst ihn anders begegnen. Beim nächsten Moment der Anspannung halte inne und frag dich: „Wer reagiert hier gerade wirklich – das Kind von damals oder der Erwachsene von heute?“ Die Antwort ist dein Schlüssel zu einem Arbeitsleben, das nicht nur erfolgreich, sondern auch erfüllend ist. New Work ist mehr als ein Trend – es ist deine Chance, die Vergangenheit hinter dir zu lassen und mit Gelassenheit durchzustarten.
Titelfoto: freepik.com